Trauer per Mausklick: Wie sinnvoll ist „Je suis Charlie“?

Nach Terroranschlägen bilden sich im Internet binnen kürzester Zeit internationale Trauer- und Protestbewegungen. Von „Je suis Charlie“ bis zu „Pray for Paris“. Woher kommen diese kollektiven Gefühlsausbrüche und wie sinnvoll es ist, sich daran zu beteiligen?

Nach den Terroranschlägen von November 2015 in Paris erstrahlten viele Profilbilder auf Facebook in den französischen Nationalfarben. User hatten ihr Profilbild eingefärbt, um ihre Anteilnahme zu bekunden. Bereits Monate zuvor, nach dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, hatten Millionen Menschen bekannt: „Ich bin Charlie“ („Je suis Charlie“). Nachträglich wurden die Kampagnen stark kritisiert. Ist die Trauer per Mausklick eine abzulehnende Entwicklung im Zeitalter neuer Medien oder eine sinnvolle Art, sich zu engagieren?

Wir haben mit dem Psychologen Stefan Reiß über dieses Phänomen gesprochen. Der 27-Jährige beschäftigt sich in seiner Dissertation an der Universität Salzburg damit, wie sich die Wahrnehmung von Bedrohungen auf Erleben und Verhalten auswirkt. Die vier wichtigsten Fragen werden im Video beantwortet, die Langfassung des Interviews finden Sie in schriftlicher Form daran anschließend.

Das Interview in voller Länge:

Frage: Binnen kürzester Zeit kommt es heutzutage nach Terroranschlägen zu kollektiven Gefühlsausbrüchen im Internet. Wir protestieren und trauern per Mausklick. Warum schaffen wir solche Massenphänomene?

Stefan Reiß: Grundsätzlich haben wir viele existenzielle Anliegen. Unter anderem Sicherheit, eine gewisse Vorhersagbarkeit in unserer Umgebung und Identität. Terroranschläge gefährden dieses Gefühl von Kontrolle und greifen die Werte unserer Gesellschaft an. Das macht uns unsicher. Wir suchen dann nach Kompensationsmöglichkeiten, um die Kontrolle wiederherzustellen. Etwa, indem wir uns explizit einer Gruppe zugehörig machen, wie beispielsweise durch das „Je suis Charlie“ oder die Einfärbung von Facebook-Fotos. Das schafft ein kollektives Gefühl von Identität und Kontrolle.

Frage: Ist das also weniger ein Ausdruck von Mitgefühl, als eine Handlung für uns selbst? Die uns hilft, mit den eigenen Gefühlen umzugehen?

Stefan Reiß: Beides spielt mit hinein. Aus sozialpsychologischer Sicht geht es darum, dieses Gefühl von Zugehörigkeit darzustellen und Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.

Frage: Bei diesen Kampagnen wurde vielfach kritisiert, dass sie nur entstehen, wenn Anschläge oder Katastrophen in Westeuropa stattfinden – nicht bei Anschlägen im Irak oder in Libyen.

Stefan Reiß: Je näher eine Bedrohung an uns dran ist, desto stärker ist unsere Reaktion. Personen, denen wir uns näher fühlen, etwa auf emotionaler oder auch ethnischer Ebene, vermitteln viel eher das Gefühl, dass wir etwas dagegen tun müssen. Die Bedrohung wird als viel näher wahrgenommen.

Frage: Wie sinnvoll ist es, wenn ich mich an dieser Art der Trauerbekundung beteilige?

Stefan Reiß: Auf persönlicher Ebene ist das eine sehr effiziente und effektive Methode, sich gegen diesen Bedrohungszustand zu wehren. Im globalen und sozialen Kontext kann das sehr negativ sein. Wenn die Gruppe, der ich mich zugehörig fühle, negative und anti-soziale Normen vertritt oder fremdenfeindliche Verhaltensweisen befürwortet. Das kann den Konflikt zwischen zwei Gruppen aufrechterhalten oder sogar beschleunigen.

Frage: Ist es also schädlich, daran teilzunehmen, weil solche Bewegungen automatisch ausgrenzen und den Konflikt befeuern können?

Stefan Reiß: Wenn man sich mit „Charlie Hebdo“ oder den Franzosen identifiziert, ist das primäre Ziel nicht die Ausgrenzung gegenüber anderen. Sondern das Schaffen einer gemeinsamen Identität und gemeinsamen Normen: Wir sind eine Einheit, auch wenn ich persönlich wenig Kontrolle habe und bedroht bin – meine Gruppe an sich bleibt stark, homogen und handlungsfähig. Und vertritt gemeinsame Werte. Das kann dann in einem sekundären Schritt dazu führen, dass ich gegenüber Personen, die meinen Gruppennormen widersprechen, extrem abgrenzend werde. Ein Beispiel wäre, Einwanderung negativer wahrzunehmen oder sich mehr gegen Flüchtlingsströme zu stellen.

Foto: Lisi Niesner

Frage: Wie kann ich verhindern, dass es zu diesen negativen Auswirkungen kommt und mich sinnvoll beteiligen?

Stefan Reiß: Wichtig wäre, in der Gruppe Normen zu haben, die pro-sozial sind. Wenn eine Gruppe ein gemeinsames Ziel verfolgt, das eher Pazifismus, Integration oder Multikulturalismus ist, dann kann das in einem Konflikt durchaus positiv wirken.

Frage: Wie stelle ich diese gemeinsamen Normen her? Meist funktionieren diese Bewegungen ja wegen der Einfachheit der Botschaften.

Stefan Reiß: Es kommt darauf an, was man daraus macht. Die Situation nach einem Terroranschlag ist emotional und aufgeheizt. Rationale Gedanken treten in den Hintergrund. Dann kann es sein, dass automatisch nach Normen gegriffen wird, die wie Sümpfe sind, zu einem Schwarz-Weiß-Denken führen und die Welt einfach einteilen. Von hier aus auf positive gemeinsame Normen und ein pro-soziales Handlungsziel zu kommen, ist schwierig. Sollte aber das höchste Ziel sein.

Frage: Wenn ich als Nutzer vor dem Bildschirm sitze und einen Anschlag miterlebe. Dann beginnt sich so etwas zu entwickeln. Wie kann ich daran mitwirken, der Bewegung diese positive Richtung zu geben?

Stefan Reiß: Eine Möglichkeit ist, pro-soziale Normen bewusst zu machen. Wenn nach einer Bedrohung Pazifismus vorgelebt wird. Das führt dann dazu, dass wir weniger aggressiv gegen Personen vorgehen, die unsere Normen verletzen oder angreifen. Wir müssen es schaffen, Pazifismus, Multikulturalismus und Offenheit zur Norm zu machen. Das kann dazu führen, dass wir weniger gegen andere austeilen. Man kann sich einer Gruppe zugehörig fühlen. Es ist aber wichtig, gleichzeitig positive Handlungen auszudrücken. Andere sollten sehen, dass das Ziel der Gruppe nicht ist, Krieg oder militärische Interventionen anzufangen, oder andere auszugrenzen. Vielmehr sollte man aussagen: „Wir als Gruppe wollen offen auf andere zugehen.“

Video & Interview:
Mattthias Sauermann

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